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Bruch und Übergang

Die neuen Bilder von Thorsten Zwinger

Michael Freitag

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Zwingers Atelier ist ein verstörendes Kabuff mit zwei kleinen Räumen. Die niedrige Werkstatt wirkt dunkel patiniert und ist gezeichnet von heftigen Arbeitsspuren. Kreuz und quer stehen große und kleine Bilder in allen Stadien der Fertigstellung herum. Ein Blick nach draußen prallt an den hehren Mauern der Nicolaikirche ab. Hier ist nichts gemütlich und auf Besuch oder Vorzeigen eingerichtet. Der Maler spricht ohnehin ununterbrochen, damit man bloß nicht melancholisch wird: Greifswald, eine im Aufschwung Ost verkleinbürgernde Hansestadt, in der allein die Backsteingotik noch von einem utopischen, die Möglichkeiten übersteigen wollenden Geist kündet, ist schnell vergessen. Die Mutlosigkeit der restaurativen Gegenwart ist überblendet von der hohen Intensität dieses monomanischen Selbstzweiflers, dem ständig die Zeit wegzulaufen scheint.

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Aber Thorsten Zwinger weiß sowieso nichts von Kontemplation und nachhängendem Sinnieren. Er beschäftigt sich nicht mit Geschichte und liest die „Kunstwissenschaft nicht“, wie er sagt. Er hängt nicht an Vorgängern und ringt auch nicht um künstlerische Nachbarschaften. Zwar kennt er die Heroen seiner Zunft, setzt sie aber außer Vergleich. Die Intentionen von Zeitgenossen interessieren ihn dagegen nur insofern, als sie Vermeidungsanlässe darstellen. Selbstverständlich schätzt er ein paar Kollegen, aber er mißtraut zugleich allen Notverwandtschaften. Weist man ihn doch auf einen Zusammenhang hin oder gar auf einen Künstler, den er zwar vielleicht nicht kennt, an den dieses oder jenes Bild jedoch erinnere, ist er bereit, es sofort zu verwerfen. Er sucht das Eigene und macht es sich dabei so schwer wie möglich. Alles, was ihn irritieren könnte, läßt er lieber aus. Deshalb haßt er auch die Attribute der Auserwähltheit und des wertvollen Schöpfertums, unrasierte Mützengesicher und weite Mäntel, selbst schöne Rahmen sind ihm eigentlich schon zuviel. Das sentimentale Bild von Unbehaustheit und Einsamkeit, das in seinem Atelier rumort, kontert er durch einen glasklaren Ausstellungsraum, den er in der City gemietet hat, und in dem er seine Bilder anderen zeigt. Bloß kein Milieu, keine Szenebeflissenheit, Vernissagen – eher nicht. Und so ist dieser Künstler in erfreulicher Weise nicht auf dem Laufenden. Das alles zusammen ergibt eine seltsame Mischung aus Unbedarftheit und Unabhängigkeit, aus Leidenschaft und Naivität, Suchen und Zupacken, etwas Unbedingtes, das es ihm jedoch erlaubt, vergleichsweise ungehindert zu arbeiten, auch gegen sich selbst.

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Das war nicht immer so. Wenn man den Katalog von 1995 durchsieht, begegnet man dieser bestimmten Art von gelungenen Bildern, die es zu Tausenden gibt, und die man trotzdem gerne sieht. Stadträume, Landschaften, Interieurs sind einem modulationsreichen Duktus der Schönansichtigkeit und nobler Oberflächenästhetik unterworfen. Der Maler hat ganz offensichtlich eine ursprüngliche Empfindsamkeit für feinste Nuancen, Valeurs, Komplementäranlagen, die er im Zuge seiner handwerklichen Professionalisierung mit großem Elan und mit sichtlicher Freude aus sich herauswarf. Dennoch: Was man eigentlich sieht, ist das gekonnte Arrangieren innerhalb einer Konvention. Es ist die Konvention der überspielten Gegenständlichkeit, der assoziationsverlorenen Vielbedeutsamkeit, das kunstvoll Hergerichtete jenes unwägbaren Zwischenreiches von Andeutungen, das immer genau befriedigt, was man als Betrachter zu erkennen glaubt oder was einen immer so wohltuend an etwas anderes erinnert. Solche Bilder bedeuten bei aller Feinheit des Vortrages doch nichts anderes, als das malerische Abendleuchten über einer reichen Freizeitgesellschaft. Wenn es feierlich werden soll, schaltet man das halogene Spotlicht an, das die Galerien und Kunstvereinsräume in Ost und West, in Nord und Süd so behaglich durchstrahlt. Dann tritt eine Bildkunst hervor, die als gehobenes Ausstattungsdesign die Wände von Hotels so gut wie die von Sparkassen oder Amtsstuben humanisiert. Eine volkstümlich gewordene Moderne, die nirgendwo mehr stört, keine Fragen aufwirft und sich deshalb selber nicht glaubt, weil sie alles vermag. Fluch der Traumeinlösung und massenhafte Erledigung, gutartiger Gebrauch, das Unbesondere, sehr begehrt.

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Zwinger, den Autodidakten oder Selbsterlerner, hat das erst erfreut, dann aber zunehmend auch beunruhigt. Er wurde mißtrauisch und begann sich zu langweilen an dem, was so leicht erreichbar schien. Es war an der Zeit, die Summe zu ziehen. Der neue Katalog, für den auch dieser Text entsteht, soll den Schnitt machen und die Schwelle zu etwas Neuem überschreiten helfen: Das Geschmeidige muß weg. So werden die jüngsten Bilder immer spröder. Das soll man sehen. Die gesetzten Gründe sind nicht mehr so unbefangen übertüncht für die edlen Reststellen durchscheinender Bedeutsamkeit. Zwinger will eine andere Verfügungsgewalt über das Material, mehr Halt und Gerüst. Eine geschärfte Bewußtheit und eine tiefere Gedanklichkeit dringen in die Bilder und machen sie härter oder unsanfter. Die Flächen und Räume sollen nicht länger Metaphern der zarten Hingewiesenheit sein, sondern zu eigenständigen Kraftfeldern aufgebaut werden, die sich nicht einfach mehr ausgleichen, sondern unruhig bleiben. Den Farbraum überwuchern Linien, Strahlen und Strukturen. Strichbänder steigen oder fallen, sie verschlingen sich oder heben einander auf bis an die Grenze des Teppichhaften und Ornamentalen. Dunkle Konturen treten hervor und können auf einmal das ganze Format umspannen. Erdfarben, Schwarz und Ocker gerinnen zu einer gedämpften, weniger prachtvollen Harmonie. Die delikate Bunttonigkeit tritt zurück. Leinwände sind nicht länger nur Farbträger, sondern eher schon Anteilseigner der Malfläche und originärer Farbklang zugleich, ein Stoff, der sich gegen den versierten Gebrauch zu wehren beginnt. Es ist, als ob Zwinger sich zu einem Negationsprinzip gegen alles durchgerungen hätte, das nach „Stimmung“ verlangt. Der fortwährende Zweifel treibt ihn dabei weit voran
in formale Radikalisierungen durch Zeichen, die jetzt für die Malerei selbst zu stehen beginnen. Anderswo erfolgt gänzliche Auflösung.

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Die Ostsee! Die Küste! Das unerträglich verkunstete Motiv! Zwinger entfärbt es zu schwarzer Tafelhaftigkeit und legt Wellenlinien über das kostbare Nichts, Wellenlinien, die von einer Art absichtlicher, ja raffiniert gesteuerter Unsicherheit im Verweisen künden und so dem Herzschlag des Künstlers und seinem Elektrokardiogramm näherkommen als dem verkorksten Boddenblick, den eine Seelandschaft immer in sich trägt. Oder Berge! Der Maler wirft sie in Brühen über die großen Flächen, duftig, unsteinig, blaßblau und beschmutzt durch einen borstigen Ockerton, der in die Senke pfeift. Schwebend immateriell ragt das Gebirge auf, kalt nur durch die Anspruchslosigkeit, mit der die Gipfel zum Himmel gesetzt sind, nicht durch das Glitzern von Schnee. Weg mit den Anspielungen, her mit der Wahrheit oder wenigstens mit dem Authentischen, das als eigenwertige Bildkonstruktion oder als formale Behauptung jede Reminiszenz unterschreitet. Dann kommt etwas Scharfes, Frisches, Rauhes, Schneidendes in das Bild, ja etwas Lustvolles, Ausgelebtes, das auch den Maler im Schwung seiner Arbeit zeigt und nicht nur ein rasches, geistgefülltes Auge. Weg mit den weichen Interieurs, her mit Architekturen, in denen auch Bedrohliches und Dunkelheiten aus Unfarbe hausen. Weg mit der Schönheit des Gebrochenen, her mit der Festlichkeit eines sich infragestellenden Prinzips des Unraffinierten. Es geht um Elementarisierung, wo einer „Farbe“ schon kann. Es geht um Brüche, wo alle Übergänge längst geleistet sind. Es geht um das Motiv des Malens, wo die gemalten Motive sich verschlissen haben.

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Thorsten Zwinger sucht also sich, nicht die Kunst, wenn er malt. Ihn interessiert allein, ob er über sich hinaus kann. Er wird dabei weitergehen müssen als bisher, und er weiß es auch. In einem der letzten Bilder deutet die Figur sich an. Mag diese noch so verpönt sein, überall mehren sich die Anzeichen eines wiedererwachenden Interesses, das die Entgegenständlichung und die ästhetische Historisierung der Spezies, das die museale Verwahrung mit vitalen Formen einer neuen Kulturanthropologie aufsprengen will. Figur und Antlitz der menschlichen Gestalt sind der härteste Prüfstein für den Ausdruck einer Kunst, die noch mit dem Leben verhandeln will, und sei es noch so kümmerlich, ohne gleich auf ein intellektuelles „Projekt“ zurückzufallen. Dabei geht es nicht einfach um die traditionelle mimetische Begegnung mit der Natur. Es ist vielmehr über die eigene Figur jene Konkretheit zurückzugewinnen, die sich in der Nachmoderne als Geometrie ihrer Abwesenheit verloren hat. Nur das in sich selbst Erfahrene ist imstande, über das Gewußte und schon tausendfach Gesagte vorzudringen und die Seh- oder Denkgewohnheiten des Betriebes anzuzweifeln. „Gerade die konkrete Bedeutung eines jeden Kunstwerks, seine willkürliche und halluzinatorische Seite bewahren uns vor dem Mechanismus einer konventionellen Realität und dem Schwindel einer eintönigen Kontinuität“, schrieb Carl Einstein 1929. Daran hat sich in einer durchsubventionierten Kulturindustrie erst recht nichts geändert. Vielleicht wird man in Greifswald eher darauf gestoßen als anderswo, vielleicht auch ist dieser Gedanke zu schön, um nicht noch einmal zu scheitern. Zwinger jedenfalls meint es ernst damit, und mehr kann man kaum verlangen.

Berlin, den 7. März 2002

 

 

 

 

 


Rupture and Transition

The New Work of Thorsten Zwinger

Michael Freitag

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Zwinger’s atelier is a disturbing cubbyhole of two small rooms. The tiny studio is dark, the walls stained with heavy, scrawled traces of his work. Countless canvasses lie about, large and small, in various stages of completion. A view out his window runs smack into the crumbling walls of Nikolai Church. Nothing is comfortable here, nor ready for a visit or a viewing of the work. The artist, at any rate, talks uninterruptedly, as if to dispel the melancholy: Greifswald – a bastion of bourgeois conventionality in the East German „upswing“; a medieval merchant’s harbor, whose brick Gothic only still bears witness to a utopian spirit that had wanted to exceed the possibilities – Greifswald is quickly forgotten. The despair of its reactionist present is overpowered by the higher intensity of this monomaniacal self-doubter, from whom the time simply seems to run away.

Atelier Greifswald

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Thorsten Zwinger knows nothing about contemplation, nor dwelling in the past. He doesn’t busy himself with history, nor studies the „scholars of art“ (as he says). He seeks no connection to his predecessors, nor does he rummage through the current scene. And though he knows the heroes of his tribe, he analyzes them without any subjective comparison. The contemporary is of interest to him only in so far as it describes the very way he must avoid. He enjoys a few colleagues, of course, but at the same time mistrusts all family ties. Point out the connection to an artist he perhaps doesn’t know, which this or that work might remind one of, and he’s ready to throw the work out. Zwinger is searching for his own way, and makes it as difficult for himself as he can. Anything that could irritate him, he simply ignores. He also hates the artist’s notion of The Chosen and Pious Creativity, the grungy, unshaved faces, and wide coats. Even pretty frames are too much for him. The sentimental picture of privation and loneliness which rumbles through his studio is countered by a glass-clear space he’s rented in the city, and where he otherwise displays his work. Happily bare of milieu, an ardent Scene, the openings. And thus the artist remains contentedly uninformed. All of which adds up to a strange mix of inexperience and independence, passion and naivete, searching and grabbing, this something absolute which enables him to work unhindered, even against himself.

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It was not always so. Looking through a catalog from 1995, one observes this same method of making pictures, of which there are thousands, and which one nonetheless enjoys viewing. Cityscapes, landscapes, interiors are all subject to a richly modulated mode of making „for one’s viewing pleasure“ – a noble, superficial aesthetic. It is clear the artist already has a basic sensitivity for the finest nuance, for value, and complimentary structure, which, in the wake of increasingly professionalized craft, he displays with great élan and obvious enjoyment. Nevertheless: What one actually sees is the skillful arranging within a convention. It is that convention of the disguised representational, lost in associative significances; the ornately-realized, imponderable netherworld of suggestion which always satisfies what we believe to recognize, or so pleasingly reminds us of something else. Such pictures are, for all their gracefulness of execution, little more than a painterly light on a wealthy leisure-class. If they’re to be celebrated, one simply turns on the halogen spot and it radiates comfortably throughout galleries and guild halls, East and West, North and South. This is painting, which, like luxurious set design, humanizes the walls of hotels, the local bank, or the office cafeteria. The popularized modern, which no longer disturbs or provokes, raises no questions, and thus doesn’t believe itself, for it makes everything possible. A curse of a dream cashed-in, mass-handled; that benign practice of the much sought-after unextraordinary.

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Zwinger, the autodidact, the self-learner, enjoyed this at first; but he soon became increasingly disturbed. He was mistrustful, and bored by what seemed too easily achievable. It was a time to sum things up. The new catalog, for which this text is written, should help cross that threshold into something new: The soft must go. And so the newest pictures are rougher. This is his intention. The sober ground is no longer so freely over-veneered towards nobler illuminating significance. Zwinger wants another power over his material, more stability and support. A sharper understanding and deeper intellectuality force their way through the paintings and make them harder, or less soft. Space and depth are no longer metaphors for the tenderly alluding to, but are now constructed as independent force-fields which no longer blend easily, but remain unstill. The expanse of color is overrun by line, luminosity and structure. Strings of line rise and fall, intertwine, or flow off to the limits of the Oriental or ornamental. Dark contours emerge, and could suddenly overrun the surface. Earth colors, blacks and ochre congeal to a subdued, less splendid, harmony. The bright, delicate coloration steps back. Canvas is no longer only color bearer, but rather a shareholder for the ground and unique color resonance simultaneously, a material which
begins to struggle against its own skilled manipulation. It’s as if Zwinger had finally decided upon a negation principle against anything that demands „mood”. Continuous doubt forces him further ahead in formal radicalization through symbols, which now begin to stand for painting itself. Elsewhere occurs total dissolution.

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The sea! The sea! That unbearably overworked motif! Zwinger colors it to dense blackboard darkness and lays his scrawl upon the precious Nothingness - scrawl, which bears witness to a more deliberate - more finely-directed - uncertainty in its referring; the artist’s heartbeat and electrocardiogram merge closer than any muddied viewed in every supermarket seascape. Or mountains! The painter throws them into bilge above a great expanse, fragrant, smooth, and pale blue, stained by a bristly ochre which whistles from the hollows. The mountains loom, floating, immaterial and cold – not by their shimmering snow, but through the simplicity which with their summits rise to heaven. Out with allusion – In with truth, or at least the authentic, which, as intrinsically valued picture-construction, or as formal assertion, falls short of any reminiscence. There now appears something sharper in the work, fresh, raw, piercing, even lustful, experienced, which shows the artist in the full swing of his form, not merely his rapid, and profound, gaze. Out with soft interiors – In with architecture which shelters a menacing, colorless darkness. Out with a beauty of the broken – In with celebrating a self-questioning principle of the unrefined. It is about fundamentalizing, where one with „color” can. It is about rupture, where all crossing-points have long been attained. It is about the theme of paint, where the painted theme has locked itself away.

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Thorsten Zwinger searches for himself – not Art – when he paints. His only interest is in whether he can go beyond himself. He will have to go further, and he knows it. In one of his last paintings is the suggestion of a figure. However much this may still be frowned upon, there are everywhere increasing signs of a developing interest in breaking up the abstracting and aesthetic historization of the species – that rusty old guard – with vital forms of a new cultural anthropology. The human face and figure are timeless touchstones for an expression of Art which concerns itself with life (however miserable it may be), without falling back upon an intellectual „project”. This having been said, the new work is not simply about traditional mimetic encounters with Nature. It is far more about winning back a certain concreteness of the figure itself, which has lost its abstraction to a post-modern geometry. Only that which is itself experienced is capable of casting doubt upon the already known, overstated and aggressively intrusive habits of the establishment. „It is precisely the concrete meaning of each and every artwork, its arbitrary and hallucinatory sides, which protect us from the machinery of a conventional reality and the swindle of monotonous continuity“, wrote Carl Einstein in 1929. This, even in an over-subsidized culture industry, has not yet changed. Perhaps the idea is more obvious in Greifswald than elsewhere; perhaps it is also too beautiful not to fail once again. Zwinger, however, truly believes in this – and one couldn’t ask for more.

Berlin, March 7, 2002


Translated by Neal Wach, Berlin