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Geschüttelt, nicht gerührt.

Die neuen Arbeiten von Thorsten Zwinger.
Ein Essay

1.

„Violett Violett“, so heißt das Bild. Ins Auge aber springt ein knisterndes, gleißendes, entfesseltes Rosa. Es prangt zwischen Bahnen aus Schwarz und Weiß. Ein edler Grauton dahinter für milde Anhaftung. Das alles auf unrein durchsottener Leinwand, roh und naturbelassen. Ein coloristisches Ereignis von irritierender Abseitigkeit, wie Pefferminz-Eis auf Ackerscholle. Warm und Kalt haben hier als Farbwesen Krieg. Und der drängt alle anderen Fragen in eine einzige zusammen: Was ist das? Aus dem Zentrum nach unten gerutscht und durch keinerlei Bildgerüst festgehalten, schwillt eine beulige, an den Rändern unscharfe Eiform in die Fläche und teilt sich in mehrere Schichten, als ob sie den rauhen Untergrund mit ihrer frostigen Glätte kränken wollte. Das Motiv würde wie ein Gewebeschnitt oder wie ein miskroskopischer Zellteilungsvorgang anmuten, käme nicht am unteren Innenrand so etwas wie eine Gebirgsformation zum Vorschein, deren Horizontlinie sich oben wieder schließt. Eine Landschaft, die aussieht, als wäre sie im Fokus eines Instruments von seltsamer Bestimmung optisch verzerrt worden, um den Himmel zu umfangen. Sie schwappt träge hin und her wie etwas Unaussprechliches am Flaschengrund, geschüttelt, nicht gerührt.

2.

Oder „Harry’s Gold“ 1 oder 2. Der Bildhintergrund ist knallrosa durchgezogen von etwas, das unpassend fröhlich: „Pink“ heißt. Blondinenfarbe und Babyklapper. Es umhüllt flach und kompakt eine zentral angeordnete Haufenform, deren Weichheit mit sich selber spielt. Flüssige und reuelos vorankommende Striche umschreiben hier etwas Unfestes, das zu keinerlei erfreulichen Assoziationen einlädt und trotzdem elegant aussieht. Ist das ein Haufen? Oder ein Berg? Oder durchdringen sich da sitzende Figuren, deren Silhouette effektvoll ausgleitet in einem Arrangement – von welcher Zugeneigtheit eigentlich? Die Bildanlage würde von ferne an chinesische Pinselzeichnungen oder an Illustrationen des Jugendstils erinnern, wenn man sich nicht auch noch fragen müßte, was die Stilanklänge mit dem Motiv zu tun hätten?
In dieser Verlassenheit von zweckdienlichen Gedanken sind Motiv und Farbe ebenso rabiat vorgetragen wie zu höchster Strahlkraft gesteigert. Die Ansicht ist herrisch, wenn nicht latent aggressiv, weil sie irgend etwas herausfordernd demonstriert, ohne einem zu sagen, worum es eigentlich geht. Und die Titel helfen nicht weiter. Sie erhöhen das Gefühl der Unzuständigkeit. Um so mehr lenkt der Zweifel die Blicke auf das Bild zurück. Ihm ist der illusionistische Tiefenraum genommen, aber auch der Zusammenhalt komplementärer Harmonie. Komposition, das ist hier ein Aufhebungsantrag für die Statik – es geht um Instabilität, Abgestelltheit, Gefährdung, das Prangen in der Ecke. Das Magische der Farbe, das dabei durch Aufprall und Anschmiegen von Bahn und Fläche entsteht, das Gewaschene, Leuchtende, Klare schmerzt wie klinische Sauberkeit, die ja auch keine „Stelle“ hat, sondern umfassend oder gar nicht ist. Das Kaltlichtige öffnet die Augenlider, blendet und stößt den Anhalt suchenden Blick wieder ab, weil das Einschleimen durch freundliche Versöhnungstupfer vermieden ist und weil das Septische der menschlichen Nähe bei einem selber bleibt, nicht jedoch in den Bildern vorkommt. Man ist entweder sofort hingerissen und läßt sich im Sog des Zwiespalts fortreißen oder man blickt sich hilfesuchend nach dem Nachbarn um. In diesem Konflikt gewinnen die Bilder ihre abstruse Signalität. Sie sind hermetisch und darin aufdringlich. Was ist los?

3.

„Das wahrhaft ‚Neue’ ist abschreckend, weil es anormal und irrational ist. Häßlichkeit ist nicht weniger selten als Schönheit. Das wahrhaft ‚Neue’ ist das Unbekannte, das nicht Erkennbare, das Chaos, die Häßlichkeit. Die Häßlichkeit nimmt ab oder verlagert sich in dem Maße, wie unser Wissen zunimmt; genauso verhält es sich mit der Schönheit. Nichts ist perfekt außer auf den ersten Blick.“ Das schrieb der dänische Maler und Theoretiker Asger Jorn vor 50 Jahren. Und er folgerte aus dieser Gewißheit: „Wenn man einem Kunstwerk vorwirft, daß es unverständlich sei, dann wirft man ihm vor, daß es ein Kunstwerk ist“.

4.

Damit ist gesagt, daß einem Kunstwerk etwas zu eigen sein muß, das dem Betrachter fremd bleibt und darum sein Interesse weckt. Man kann es eine Sensation nennen, eine Provokation, eine Lüge, was Provokationen ja nicht immer sind, einen Rest an Undurchdringlichkeit oder den Ausschlag eines Wahns. Ganz egal. Klar jedenfalls ist, daß das Vorhersehbare zwar manchmal angenehm ist, weil es Vertrautheit herstellt, zugleich aber die Wurzel aller Langeweile bildet. Sie macht den Hauptbestandteil unseres Lebens aus, weshalb wir es oft nicht bemerken - nicht der Zwang ist es ja, der sie bewirkt, sondern seine ewige Wiederkehr. Nicht die Kunst, sondern das Uniformierte ihres schwärmerischen Vorreitertums. Nicht der Spiegel an der Wand, sondern daß man jeden Morgen wieder sich selbst darin sieht, verkehrt herum, und das für richtig hält. Gewohnheit ist demnach nicht das Problem. Das Problem ist die Irritation, mit der wir ihre Unterbrechung zur Kenntnis nehmen.
Darum gibt es Kunst. Sie unterbricht die Langeweile und schafft momentan Stille. Es gibt nichts Beunruhigenderes. Leistet die Kunst das nicht, handelt es sich nicht um Kunst, sondern um etwas, was sich dafür ausgibt. Oder es ist Argumentationslinie oder reines Konzept oder Propaganda. Ohne ein ästhetisches Ereignis, das sich eigene Prämissen auferlegt, in welche Richtung auch immer, gibt es kein Kunstwerk. Manchmal wird das auch Künstlern klar. Und da die Zeiten vorbei sind, in denen eine Stilneuerung die andere jagte, das Zeitalter der Ismen, also das der besonderen Allgemeinheiten, stehen Künstler heutigentags unter dem verstärkten Druck, sich selbst andauernd in ihren Anschauungen unterbrechen zu müssen, um sich nicht zu langweilen. Es sei denn sie sind berühmt. Dann geht es um Markenfabrikation – vollendete Langeweile, auf vollendetem Niveau freilich.

5.

Was sich fast lustig anhört, ist es nicht. Der Druck auf den Künstler kommt von innen und außen und droht ihn zu zerreißen. Er muß mit der Frage nach dem Ziel seines Tuns innerlich fertigwerden und sich gleichzeitig bemühen, nach außen kenntlich zu bleiben. Vorausgesetzt, es gelingt ihm, innerhalb des Betriebssystems zwischen öffentlicher Förderung, festangestellter Ehefrau und privatem Kunstmarkt sein Leben durch unsicheren Produktverkauf zu erhalten. Die Verklärungen des Künstlerdaseins durch Bohème, Einsiedlertum, Hungern für Geist, Attitüden der Antibürgerlichkeit mit Absinth und Lumpenjackett sind mit den Ismen zu jener Legende geworden, die sie immer waren und bilden keinerlei Produktionswirklichkeit mehr ab. Denn der „Künstler ist jetzt vollständig in die Gesellschaft integriert“. Das schreibt ausgerechnet der kühnste aller Außenseiter, Marcel Duchamp, und fügt, kristallin wie er ist, hinzu: „Durch ihre enge Verknüpfung mit dem Gesetz von Angebot und Nachfrage sind die visuellen Künste eine „commodity“ (also eine Ware) geworden: das Kunstwerk ist jetzt ein gangbares Produkt wie die Seife und die „securities“. Nicht Mission und spiritistische Anwandlung zwischen Intuition und Sittenverachtung, nicht der Mythos vom Sonderkreativen und der Glaube an das voraussetzungslos Wertvolle eines mangelhaften Gebrauchswertes, den ein Kunstwerk nun einmal darstellt, nicht der kitschverdorbene Überbau also macht den Künstler frei. Frei macht ihn, sich von diesen klebrigen Vorstellungen zu lösen und die eigene Durchsetzungsfähigkeit ungetrübt ins Auge zu fassen. Charakterlich gesehen, verlangt das neben Risikobereitschaft einen kühlen Kopf, Illusionsvermeidung, abgefeimte Vermarktungsstrategien, ästhetische Kalkulation und Rechnungswesen. Geistig gesehen, verlangt das neben einer gewissen Empfindsamkeit gegenüber dem schon Dagewesenen auch den Respekt vor schon gewonnenen Lösungen. Das Publikum hat selbst den Unterhaltungswert aber schon wieder einer Subversion längst begriffen. Und Abstraktion? Sie findet sich in jedem Hotelzimmer und ist in allen ihren Facetten weithin akzeptiert, wenn nicht sogar gewünscht. So sehr, daß sich neuerdings selbst die Experten darüber wundern, warum plötzlich wieder Figuren gemalt werden und damit auch noch ein Haufen Geld verdient werden kann. Provokationen aus den Sprachwelten der Kunstideologie, hier Abstraktion und Fortschritt, dort Reaktion und Gegenständlichkeit, sind an der Unersättlichkeit des Marktes gescheitert und ihrerseits zu Leitbildern der Langweiligkeit heruntergekommen. Es ist immer alles schon da, tonnenweise, wändeweise.

6.

Das ist gut so, weil es den Künstler auf seine eigentliche Aufgabe zurückdrängt. Er muß sich wieder Gedanken machen, bevor er ausstellt. Er kann nicht mehr einfach mit der alten Leier kommen: Was ich hier mache, ist zwar nicht neu, aber so sensibel. Glaubt man den Kunstschreibern, visioniert heute jeder, aber eben einer wie der andere. Wenn das so ist, dann ist es auch keine Frage der theoretischen Anstrengung mehr, sondern schon eine des Gewissens, jenes Neue finden, von dem Asger Jorn sprach. Wenn nicht für die Weltkunst, dann jedenfalls für sich. Die Schwierigkeit eben ist: Was neu ist, wird zunächst unverständlich sein. Es trotzdem zu wagen, hieße darauf zu vertrauen, daß das Häßliche das Schöne wird, wenn es verstanden wurde. Dieses Verständnis herzustellen, ist wiederum nicht die Aufgabe des Künstlers, sondern seiner Kunst. Das ist ein feiner Unterschied, der beachtet sein will, weil der Zusammenhang so oft mißverstanden wird. Darum sind auch all die Exegeten in eigener Sache so lästig. Was Künstler erzählen, ist vollkommen gleichgültig. Denn was sie sagen, ist nicht unbedingt gesagt. Was sie getan haben und ob das einen Sinn hat, erweist sich allein durch das Werk, also durch die Zurichtung des Publikums, das es erreicht. Das hat nichts mit mehr Provokation zu tun, sondern mit dem Erwirken von anhaltender Aufmerksamkeit, dem A und O einer Wirkung. Das neue Häßliche wird schön, wenn es einen zweiten Blick herausfordert. Man könnte auch sagen: Das, was den zweiten Blick erfordert, wird etwas Neues sein. Soviel dazu, warum ein grelles Pink zu meiner Lieblingsfarbe werden konnte, nachdem ich seit vier Jahren verfolge, was es bei Thorsten Zwinger so Neues gibt.

7.

Wer die Werkentwicklung von Thorsten Zwinger kennt, weiß, daß er sich selbst erst einmal unverständlich werden mußte, um zu diesem Rosa zu kommen. Er hatte als sein eigener Betrachter auch den eigenen zweiten Blick erst zu ermöglichen, um Härte zu gewinnen. Seine Veranlagung für Schönfarbigkeit, Harmonie und Wohlklang, die am Anfang seines Schaffens sofort hervortrat, stand ihm am Ende im Wege. Er brauchte sich und die Textur seiner Bilder nur zu variieren, um erfolgreich zu verkaufen wie eh und je und dennoch unzufrieden zu sein. Er spürte, daß die Verfahren, die er gewonnen hatte, um zu einem Bild zu kommen, für ihn bald gesichert waren, also abgearbeitet, also ästhetisch erledigt, also langweilig. Immer dann jedoch drohen Kunstgewerbe und Ehemaligkeit. Bevor es soweit kam, beendete Zwinger diese Phase mit dem ersten Katalog.
Mit dem zweiten leitete er eine scharfe Kehre ein. Er eliminierte mit der Farbigkeit auch die Verführbarkeit durch die Routine des Gewußten aus seinen Bildern, indem er schwarze Flächen in differenzierte Tonwerte sublimierte und sie mit schwebend leichten Strukturen aus grauen Linien versah, nahe dem Nichts. Ein geistiger Akt der Versagung, der den rhetorischen Aufwand der bisherigen Bilder drosselte. Die Tafeln wurden leer, aber sozusagen feinsinnig. Das Ergebnis konnte auf Dauer auch nicht befriedigen. Die Reduktion der visuellen Mittel neigte zu Wesenlosigkeit, zu Schummer als Transzendenz. Hier drängte sich nach dem heiter Gekonnten das entsagungsvoll Perfekte auf, für das auch der erste Blick genügt.
Und doch waren diese Bilder notwendig wie ein verdunkelter Raum, in dem man Besinnung sucht. Sie wirken im Rückblick wie ein Innehalten vor der Schmerzgrenze der Selbstüberwindung. Zwinger versuchte nicht weniger, als sein Können auszuschalten. Das war in einem bestimmten Sinn gelungen. Die Frage nach Abstraktion oder Figuration fiel ganz weg. Jetzt mußten ihn andere Fragen bedrängen: Wie schafft man ein offenes Bildsystem, bei dem die Farbe analog zu dem funktioniert, was sonst in der Kunstwelt dargestellt, imitiert, gestohlen oder zum Gähnen herbeigeredet wurde. Die Frage war: Wie sollte ein Bild beschaffen sein, das auf ein hervorgekehrtes Ich verzichtete und den Mitteln ganz vertraute und welche Mittel das sein mochten. Oder: Wie löst man das Kontinuum des Illusionsraumes und damit auch den Anschein eines ablaufenden Handelns auf, also das Gefühl für Zeit? Wie also wird ein Bild evident, notwendig, schmerzhaft, brüskierend, schön, aber undiskutierbar? Zwinger war bei Grundfragen angekommen, die nie aufhören, welche zu sein. Der erhoffte Bruch war deutlich nicht erreicht, aber Zwinger stand vor der nächsten Tür.

8.

Über der Tür stand ein Satz: „Keine gefühlten Striche mehr!“ Der gefühlte Strich ist ein Irrtum, der sich aus der Modernerezeption des Ostens ergab, aber seinerseits in der historischen Defensive versank. Gefühlter Strich hieß für die Anschauung: Letzte Bewahrung von Kreatürlichkeit für geistige Humanreservate - klassischer Blickfang, gemocht wie verbraucht. In der Praxis lief er auf die Redlichkeit mühevollen Handwerks hinaus. Aber dem Anspruch mangelte es an Frohsinn und an der Inspiration durch Verfehlung. Das Fühlige verkümmerte ja längst in der ästhetischen Nullform ungegenständlichen Hochwertdekors - von Franfurt Oder bis Frankfurt Main. Das mußte endgültig weg.
Weg auch mit dem inneren Bluten, weg mit den Zeichen der Austüftelung, weg mit der Kunstfertigkeit, weg mit den Kalligraphien des Wohlgefallens hell über dunkel. Ab durchs Dickicht der Floskeln und mitten durch den Mulm aller Bedeutsamkeit. Rosa also. Mysteriöses Gerät. Fotografie aus der Hüfte dazu. Die Linie auf den Irrwegen reiner Selbstvergessenheit. Keine Klage, kein Vordrängen, kein Zaudern. Abweisen statt Anlocken, in der Sache verschwinden und gerade dadurch erkennbar sein. Das Umfeld ausschließen, die Biographie im Poesiealbum belassen. Lieber an Francis Bacon scheitern als die nächste Jury der Stadtsparkasse zu überzeugen.
Dahinter stand kein ausgearbeitetes Konzept, nur der Wille, mit sich ins reine zu kommen und den Ballast abzuwerfen. Aber was heißt „nur“? Abwerfen heißt Auswählen. „Auswählen, das bedeutet nichts zu wissen, das bedeutet, etwas zu opfern. Auswählen, das bedeutet formen oder ausschließen: das ist Kunst.“ Noch einmal Asger Jorn. Es spielt aber keine Rolle, daß der dies und anderes sagte. Ich weiß nicht einmal, ob Zwinger diesen Maler schätzt. Wichtig ist, daß die Sätze auch von jedem anderen Künstler hätten gesagt sein können, weil diese Aussage auf einer elementaren Arbeitserfahrung beruht, jedenfalls bei denen, die sich nicht langweilen wollen.

9.

Rosa. Seit zwei Jahren malt Zwinger, wohin es ihn immer drängte, ohne Hemmung, verzweifelt, impulsgesteuert. Er wollte radikal schöne Farben, unverschämte, also auch ungebrochen eigene und darin eigentliche, lieber kranke Bilder als heile, lieber das blühende Scharlachrot vom Bruchrand eines Geschwüres als ein sphärisches Raunen in lauter lauteren Zeichen. Ein Klima der Erfrorenheit, des ungezügelten Vertrauens in die Spannkraft von Chaos und Irrsinn, eine Atmosphäre ungezügelter Freiheit vor gehabten Ausdrucksereignissen. Und so kam Schwung in die Sache. Diese Bilder haben Luft, Transparenz, Herausgehobenheit, den noblen Strich des Willentlichen, dazu den Glanz jenes Kaltschmelzes, den Zwinger an der „Fontaine“ von Duchamp bewundert, weil er die Unausdenklichkeit dieser Skulpturalform liebt. Ein tiefes Kohlschwarz und ein Marzipanton dazu, das Leuchten von Schlüpfer und Strumpfband in der Natur eines abgesoffenen Goldockers, Nuttenhain an blauer Grotte, Fleisch und Geist, Ekel und Schneidigkeit, kein Halbgefühl, keine Lauheit, nichts Abgedachtes. Das hinterwärts grundierte Leinen - edle Kehrseite -, nicht Träger, sondern Gegenstand einer Malerei, die Erhabenheit will, also Unberührbarkeit, also nicht das Hergebrachte.
Zwinger wollte Kunst, die sich nicht einfach selbst versteht. Ein ungeheurer Elan sprengte sich den Weg frei in verschiedenste Richtungen unerwarteter Formfindung. Er schuf sich zu dem anderen mit den Kleinbildreihen eine Art Fotoplastik, die ein unerschöpfliches Reservoir von Motivverneinungen und als Ablagerung zugleich eine für sich funktionierende Bildanordnung bedeutet, die sich wiederum gleichberechtigt zu seiner Malerei verhält und in ihr auch ein fernes Echo erhält. In den „Recorded Stripes“ laufen sich Farbbahnen wie imaginäre Filmstreifen wund und machen Bilder von hoher Brillanz aus dem Nichts von Rolle und Untergrund, ein gebändigtes Strukturenfeld, das aus der Hand und dem Ungewissen der Formatbewältigung kommt, um in den Abweichungen des Zufalls zu vibrieren.
Zwinger ließ außerdem Glasskulpturen herstellen, die mit den Motiven seiner Gemälde spielen, sie umdenken und aus deren Assoziationsfeldern reißen. Eine Glanzlichter spendende, zerbrechliche Gestaltenreihe. Sie legt Gedanken an Körperelemente ebenso nahe wie sie auf das Technische ihrer komplizierten Hergestelltheit baut, Zwischenreiche öffnend hin zu Labor und Mikrowelt, Landschaftsfragment und Zellenverband, Exkrement und Darmverschluß, Bioform und organischer Architektur. Das alles oszilliert auch in den Bildern, so daß zwischen den Ausdrucksgebärden der verschiedenen Werkfolgen von Bild, Installation und Skulptur eine reger Verkehr herrscht.

10.

„Oxytocyn“. So heißt ein prachtvolles Bild, das mich lange bewegt. Eigentlich macht der Titel nichts. Titel sind bei Zwinger Nebengeräusch und Irreführung. Sie sind die Tonspur zu einem anderen Film, der im selben Kino läuft. Sie sind Teil des Ziels, die motivische Offenheit, um die es geht, nicht mit Erklärung und Erhellung klein zu reden. Fragt man dennoch, ist Oxytocyn ein Hormon, das bei extremen Gefühlszuständen ausgestoßen wird, eine Innigkeitsdroge aus der eigenen Säfteproduktion. Man nennt es deshalb auch den „Botenstoff der Nähe“. Diese poetische Zeile geht zu allem und nichts, klingt aber fremd genug, um den Gedankensprüngen freie Bahn zu schaffen. Und so kann man beim Betrachten dieses Bildes zwar auch das metaphorische Leitbild bemühen. Weiter führt es aber, sich auf die Untiefen bewußtloser Bildfindung einzulassen. Ich hebe das hervor, weil dieses Bild ungewollt noch einmal zusammenzufassen scheint, was Zwinger seit 20 Jahren auf diesen und jenen Wegen gesucht hat. Man findet alles wieder, die Strichelung in der Binnenform, den Schwung weiter Linienbögen, die Reinheit von Großflächen in den Abstufungen delikater Untertöne, Durchlässigkeit und Verdichtung, Eleganz und Reibung, Leuchten und Glanz. Und doch ist etwas daraus geworden, das dieses Herkommen auch wieder vergessen macht und sich zu neuer Berechtigung erhebt. Der „Stoff der Nähe“ umschreibt ein Wohlgefühl, das unseren Organismus bis an die Ränder durchdringt. Aber er will über sich hinaus und bleibt unwillkürlich - wie dieses Bild. Es reagiert auf eine Wirklichkeit, die sich aus den Perspektivwechseln der Betrachtung immer wieder anders zu erkennen gibt. Landschaft, Grabhügel, Einschluß, Meer, Horizont und Himmel könnten auch ein dermatologisches Schaubild persiflieren und ein pathologisches Ikon von einiger Grausamkeit sein, oder sie könnten mit den Höhen und Tälern weicher Umrisse auch als Hommage an die asiatische Holzschnittkunst des 19. Jahrhunderts gelesen werden, mit deren Rezeption jene Moderne ja begann, die wir heute zugrabe tragen.
Dieses beziehungsreiche Bildgefüge ist vor allem jedoch eine Anschauungstafel von reiner Melancholie. Darin nimmt es den Faden unvermerkt wieder auf, den ein anderer Greifswalder, Caspar David Friedrich, vor über hundertfünfzig Jahren fallenließ. Womit er rang, war die Blockade der Tiefensehnsucht durch die Begrenztheit unserer Sinne, das Scheitern am Begriff der Unendlichkeit in der zur Verfügung stehenden Räumlichkeit, das Beschwören einer Schönheit, die sich jenseits von Klassik und Antike dem Klang des Universums öffnet und an dessen Widerhall im Seelenleben des Menschen glaubt.
Dafür spricht dieses tiefe und anrührende Blau, das Zwinger gemalt hat, ein Band der Versöhnung zwischen dem Dunkel unten und der Schwere oben. Die Bildachsen sind aufgehoben. Alles spitz Herausfordernde ist vermieden, der Schwung von ausholenden Wellenlinien überfriedet den Kokong eines Todes. Das Rosa adelt den Feinverlauf zwischen Grau und Schwarz wie die Kühle eines Einspruchs und gerinnt zu einem Zögern, mit dem seine innere Unruhe am unteren Bildrand plötzlich verharrt - als wüßte es nicht weiter.
Zwingers Bild ist sanft durchdrungen von anderen Bildern, auch von seinen eigenen, und bedeutet doch nichts Vorbestimmtes, weil es offen und voller Botschaften ist für bestimmte Personen, für Vorbilder, für andere Zeiten und Positionen, und das macht es vielschichtig wie die Bahnen, die es zerlegen. Es bringt sich immer wieder zu sich selbst zurück und entlastet sich so von Interpretationseingriffen, die am Ende doch nur unserer Schlauheit schmeicheln. Interpretation ist immer die Anstrengung, ein Phänomen zu verarmen, indem man sich diesem selbst auflädt - diesen Text eingeschlossen. Und doch gibt es kaum Alternativen zum Persönlichen der Zugänge, will man das Gesehene mitteilsam halten und nicht bei Bildungsereignissen verweilen, auf die Kunst heute kaum noch bauen kann und deshalb eher vermeidet. Das muß man wissen, um im Unverständlichen den Reiz, die Energie zu entdecken, die einen anstößt und weiterbringt. Man muß schon hinsehen und sich beunruhigen lassen. Das Verstehen bleibt privat.

11.

Thorsten Zwinger hat sich mit seinen neuen Bildern, den Skulpturen, den Fotosequenzen einen geistigen Raum von größerer Reichweite und unerhörter Spielfreude geöffnet und sich dabei völlig gelöst aus dem Bann vermeintlicher Zuständigkeiten, die hier angedeutet sind. Er hat sich neben der Malerei Möglichkeiten erarbeitet, die auf den verschiedenen Instrumenten der Ausdrucksgewinnung zwischen Grauen und Heiterkeit, extremer Zuspitzung und Gelassenheit, Angstlosigkeit und Schönheit alles zulassen, was ihm die antrainierten Hemmungen abraten. In diesen Glasphiolen blitzen Alchimistengeist und OP-Bereitschaft, Schwerkraftprobleme und organoides Pumpen, das Zarte, fast Immaterielle einer zerbrechlichen Hülle und die gestörte Allansichtigkeit eines lichtfangenden Körpers. Wenn man hindurchschaut, erkennt man die Welt nicht wieder. So ließe sich Kunst definieren. In den Fotografien spült sich unser ganzes Filmgedächtnis aus. Man begegnet wie in Nachbildern vorbeihuschenden Helden, Idolen, Liebesszenen, Mord und Totschlag, der Zauber eines Frauenknies im Stillstand unscharfer Aufgehaltenheit, flimmernde Elektronik als Rockmusik – das alles kommt im achtlos angepinnten Zustand von Dachlatte und Baumarkt nieder, um einen Staketenwald zu bilden voller informationsgeladener Blätter, die nie gemalt zu werden brauchten. Ein ikonografisches Auffanglager für stundenlanges Staunen, Zeigen, Erinnern und Träumen aus der Dichte einsamer Schnappschüsse. In den Gemälden schließlich wird das alles auf den kleinsten Nenner gebracht durch die Entleerung der Motive, durch die Spannkraft tödlich leckerer Farben, die ihrerseits die Analogie zu den anderen Teilen der Werkgruppen herstellen und sie in die Aura hellster Verfügungsfreiheit tauchen. Es funkelt aus allen Ecken, so daß eine Galeriepräsentation zur Schwierigkeit wird, weil man eigentlich das Chaos des Ateliers brauchte, um einen angemessenen Eindruck vom durchgehenden Impuls dieser sinnlichen Mulitiplizität zu bekommen, die einen auch deshalb mitnimmt, weil sie einen aus den mitgebrachten Wohnzimmern stößt.
Und dann, zwischen Häßlichkeit und Betörung, zwischen Unverständlichkeit und Wiedererkennen, zwischen Abschreckung und Anziehung, wird man plötzlich dankbar. Nicht mehr so sehr wegen der Frage, was ein knisterndes, gleißendes, prangendes Rosa an Schwarz zu Weiß auf unrein durchsottener Leinwand zu suchen hat. Sondern wegen der Frage, warum man sich das fragt. Erreicht ein Künstler das, hat er seinen Teil getan.

Berlin, 15. August 2006

Michael Freitag

 

 

 

 


Atelier Greifswald